Verantwortung für die Fehler des Vorgesetzten übernehmen: Wo fängt die Loyalität zum Chef an, wo hört sie auf?


Eine Leserin schrieb die folgende Frage an die Redaktion von Das Sekretärinnen-Handbuch:

"Seit über 30 Jahren arbeite ich nun als Sekretärin, die letzten fünf Jahre in einer Anwaltskanzlei. Vor einigen Tagen rief mich ein aufgebrachter Klient an, der wissen wollte, wo sein Vertrag bliebe, den mein Chef absegnen sollte. Er hatte ihn vor über einer Woche per Express-Brief geschickt, und ich erinnerte mich, dass ich den Brief unmittelbar nach seiner Ankunft auf den Schreibtisch meines Chefs gelegt hatte. Er jedoch bestreitet, den Brief je gesehen zu haben. Nachdem mein Chef und ich sein Büro umgekrempelt hatten, haben wir den Vertrag unter einem Stapel Akten auf seinem Schreibtisch gefunden. Er musste kleinlaut eingestehen, dass er den Brief nach dem Öffnen wohl vergessen hat.
Ich schlug ihm also vor, vor dem Klienten die Verantwortung zu übernehmen, und mein Chef stimmte zu. Ich habe gleich bei dem Klienten angerufen und mich entschuldigt, dann habe ich ihm den Vertrag persönlich vorbeigebracht.

Jetzt plagen mich aber Zweifel. Ich habe zwar den Ruf meines Chefs gerettet, meinen eigenen aber gefährdet. Wird mir der Klient jemals wieder etwas anvertrauen? Hat der Vorfall Auswirkungen, wenn ich mir mal eine neue Stelle suchen will? Ich frage mich, ob es zu den Aufgaben einer Sekretärin gehört, die Verantwortung für die Fehler des Vorgesetzten auf ihre Kappe zu übernehmen."


Die Frage, ob die Sekretärin Verantwortung für die Fehler ihres Chefs übernehmen soll, kann nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden. Wir haben sieben Punkte zusammengestellt, die Sie auf jeden Fall bedenken sollten, bevor Sie einen Fehler eingestehen, den Sie gar nicht begangen haben:

1. Wie wirkt sich Ihr Schuldeingeständnis auf Ihre Selbstachtung und das Ansehen Ihrer Tätigkeit aus? Wenn Sie sich wegen eines falschen Schuldeingeständnisses schlecht fühlen oder von den Kollegen als "Dummchen" belächelt werden, dann sollten Sie die Verantwortung für den Fehler Ihres Chefs nicht übernehmen.

2. Ist es für Sie entscheidend, ob der Vorgesetzte bereit ist, Sie für Ihren selbstlosen Einsatz zu belohnen? Erwarten Sie mehr Aufmerksamkeit oder einEntgegenkommen bei der nächsten Urlaubsplanung? Wenn Sie diese Fragen mit Ja beantworten, dann kann von einem selbstlosen Einsatz nicht mehr die Rede sein, oder?

3. Sollten Sie nur die Verantwortung für "menschliche" Fehler übernehmen und Ihrem Chef die Verantwortung überlassen, wenn es an seiner Kompetenz hapert? Es kann passieren, dass Ihre Kompetenz angezweifelt wird, wenn Sie die Kompetenzfehler Ihres Chefs "auf Ihre Kappe" nehmen.

Das Sekretärinnen-Handbuch - Denn ohne Sekretärin läuft nichts

4. Erwarten Sie, dass sich Ihr Ansehen bei Ihrem Chef verbessert oder eher verschlechtert wenn Sie die Verantwortung übernehmen? Dann haben Sie eine Erwartung, die gegebenenfalls enttäuscht wird. Vielleicht ist es für Ihren Chef selbstverständlich, dass Sie hundertprozentig für ihn einstehen.

5. Sollten Sie einen Schlussstrich ziehen, sobald Geld im Spiel ist? Die Verantwortung für einen verschollenen Vertrag auf sich zu übernehmen ist weniger heikel als die Schuld für einen verschwundenen Scheck.

6. Planen Sie, auch in Zukunft mit falschen Schuldeingeständnissen die Verantwortung zu übernehmen? Sollten Sie Ihre Bereitschaft bei der nächsten Dienstbesprechung erwähnen, oder lassen Sie den Vorfall auf sich beruhen? Wenn Sie Ihre Bereitschaft zur Schuldübernahme laut aussprechen, wird es zur Regel, dass Ihr Chef Sie zum „Haue abholen" vorschickt. Das kann auf Dauer sehr anstrengend und frustrierend sein.

7. Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht in größere Probleme verwickelt werden? Welche Konsequenzen hat das Fehlverhalten Ihres Chefs für Ihr Unternehmen? Wenn Sie einmal die Verantwortung übernommen haben, ist es schwer, das rückgängig zu machen. Und wie loyal ist dann Ihr Chef Ihnen gegenüber?

Fazit: Wenn Sie durch falsche Schuldeingeständnisse in Schwierigkeiten geraten oder diese sich negativ auf Sie, Ihre Tätigkeit, Ihr Ansehen auswirken, lassen Sie lieber die Finger davon.